Zu aller erst…
In diesem Blogabschnitt sprechen wir über Sucht. Du wirst tiefere einblicke in mein damaliges Suchtverhalten bekommen und merken, dass diese Sucht von vorne bis hinten mein ganzes Leben bestimmte.
Ich werde über mein Konsumverhalten, meine Entzüge und meinen damaligen Alltag mit dir teilen und dich ein Stück weit auf eine Reise zu meiner persönlichkeit mitnehmen.
Jetzt beginne ich diesen Blogabschnitt aber erst einmal mit einem Kapitel aus meiner Biografie „Fesseln der Sucht: Mein Weg zurück ins Glück“
Mein Delirium
Ich trank eine ganze Weile weiter. Vielleicht sechs Wochen lang oder so. Rückblickend fällt es mir schwer, Zeiträume exakt einzuschätzen. Jedenfalls war ich noch immer 24 Jahre alt und hatte keinen Plan, wie es weitergehen sollte. Ich fühlte mich in dieser Zeit fremdgesteuert. Es war, als ob jemand anderes von mir Besitz ergriffen hätte. Jemand, der mich anwiderte und sich von Tag zu Tag mehr in den Vordergrund drängte. Ich erkannte mich selbst nicht mehr und hasste mich dafür, was ich den Menschen in meiner Umgebung mit meinem Konsum antat. Ich hasste mich dafür, dass ich es nicht schaffte, aus eigener Kraft meine Psyche wieder aufzurichten.
Egal, was ich konsumierte. Egal, wo ich mich aufhielt. Egal, an welche Passagen ich aus meinem früheren Leben dachte. Nichts holte mich aus dem seelischen Loch raus, das ich mir von Tag zu Tag tiefer schaufelte.
Mein Konsum blieb nicht unentdeckt. Ein Bekannter versprach, mir zu helfen und bot mir einen kalten Entzug in einem seiner Appartements an, die er vermietete.
Ich hatte schon oft davon gehört, dass es gefährlich wäre, einen kalten Entzug zu machen. Dennoch entschloss ich mich, auf das Angebot einzugehen. Die Sucht hatte mir zu diesem Zeitpunkt schon alles genommen, dachte ich. Ich wollte nicht in die Klinik, aber ich wollte aufhören. Es sollte sich etwas ändern. Daher hielt ich es für das Beste, auf das Angebot einzugehen.
Ich hatte mich immerhin noch nicht selbst ganz aufgegeben, redete ich mir ein. Ich packte alles ein, was ich noch besaß. Es waren zwei Taschen voll mit Klamotten und ein kleines Bündel Scheine, vielleicht 250 EUR. Ich gab meinem Bekannten mein Handy und begab mich in ein kleines Appartement, das aus einem Zimmer bestand, mit einer Kochnische und einem separaten Badezimmer. Ich kaufte mir etwas Brot und Brotaufstrich und nistete mich ein.
Die ersten drei Tage kam ich kaum aus dem Bett. Ich lag zusammengekauert, vollgeschwitzt und zitternd auf der Matratze. Das Licht ließ ich wegen meiner Paranoia und Angstzustände dauerhaft an. Es gab kein Fernsehprogramm, was mir keine Angst bereitete. Ich durchlitt wieder einmal die Hölle auf Erden.
Ich krampfte zwanghaft in den Beinen und kniff mich ständig selbst in die Arme. Ich konnte das T-Shirt gar nicht oft genug wechseln, so sehr schwitzte ich. Die Krönung war, dass ich mich ständig übergeben musste.
Doch irgendwie schaffte ich es. Nach drei Tagen konnte ich mir abends im Fernsehen sogar „Two and a Half Men“ anschauen und der Handlung folgen. Ich stand auf und beschloss, mir ein Brot zu machen. Da begann ich plötzlich am ganzen Körper stark zu zittern und das Brot schien sich ruckartig nach rechts zu bewegen. Ich ging einen Schritt zurück und ließ das Messer vor Schreck fallen. Als ich mich umdrehte, sprang ich erschrocken zurück und stieß mir den Kopf an der Schranktür, die ich offen gelassen hatte. Der Ton vom Fernseher kam mir verzerrt vor und meine optische Wahrnehmung wackelte total hin und her.
Ich hörte die Stimme meiner Mutter, die fragte, ob ich sie höre.
Die Stimme wiederholte die Frage immer wieder und wurde dabei immer schneller.
Einen kurzen Moment war ich klar und dachte, ich sollte möglichst schnell zu meinem Bekannten rübergehen und Hilfe holen. Doch dann dachte ich, dass es besser wäre, abzuhauen. Oder sollte ich im Appartement bleiben, um mich selbst zu verletzen?
Diese ganzen Gedanken waren gleichzeitig in meinem Kopf und alle waren sehr drängend und zwanghaft. Es schien mir fast so, als würde ich meine eigene Stimme hören, die mir diese Sachen gleichzeitig befahl. Ich kämpfte mit mir selbst eine ganze Zeit lang und überlegte, was zu tun sei.
Der Gedanke, mich selbst zu verletzen, drängte sich kurzzeitig immer wieder in den Vordergrund. Ich redete laut mit mir selbst, nannte ständig meinen Namen und bettelte mich selbst an, mir nichts anzutun.
Diese wechselnden Gedanken, die so drängend waren, änderten sich ständig und immer wieder stand ein anderer Gedanke im Vordergrund.
Ich schaffte es nach einem heftigen Kampf, mich gegen meinen Willen irgendwie von der Schublade wegzubewegen, in der die Messer waren.
Ich versuchte, mich auf den Gedanken zu konzentrieren, dass es am besten wäre, wenn ich zu meinem Bekannten rübergehe. Dort würde ich Hilfe finden. Ich versuchte, mir die Schuhe anzuziehen. Immer wieder. Aber es gelang mir nicht. Ich dachte daher, dass ich es einfach lasse und mir die Zeit spare. Dann war plötzlich wieder der Gedanke da, dass ich mich nicht verletzen darf und meine Füße durch die Schuhe vor Verletzung geschützt würden.
Immer wieder bohrte ich verzweifelt meinen Fuß in den Schuh, bevor ich ihn wieder fallen ließ, weil meine Gedanken zu Befehlen wurden und sich im Sekundentakt änderten. Irgendwann warf ich die Schuhe ins Badezimmer und kämpfte darum, mich nur noch auf den Gedanken zu konzentrieren, dass ich nun zu meinem Bekannten gehen musste.
Irgendwie schaffte ich es. Auf dem Weg zu meinem Freund blieb ich ständig stehen, weil ich das Gefühl hatte, dass ich niemandem zur Last fallen darf. Nach ständigem, im Kreis drehen, rannte ich einfach los.
Die Pforte zu öffnen war, genau wie die Sache mit den Schuhen, ein Kraftakt.
Ich schrie plötzlich ganz laut nach Hilfe. Mein Freund kam heraus und führte mich in den Wintergarten, wo er mit seiner Frau und dem kleinen Bruder seiner Frau saß. Ich saß den Dreien gegenüber und kämpfte damit, überhaupt ein Wort herauszubekommen.
Aus unerklärlichen Gründen sagte ich mir selber, dass ich den Mund halten muss. Gleichzeitig dachte ich, dass ich Hilfe brauche. Ich überlegte, einfach gegen den Tisch zu treten. Vielleicht würden die Drei merken, wie es mir innerlich ging. In diesem Moment wollte ich endlich doch wieder in eine Klinik. Aber ich wollte auch keinen Menschen mit meinen Problemen belasten.
Kurze Zeit später fing ich, ohne nachzudenken, anzureden. Ich plauderte alles aus, was in meinen Kopf vorging und ständig waren es gegensätzliche Aussagen. Ich redete wie ein Wasserfall ohne Punkt und Komma. Man konnte mich nicht mehr zur Ruhe bringen. Als mein Kollege sagte, ich sollte mal probieren, zwei Minuten nichts zu sagen, kämpfte ich so sehr damit, ruhig zu sein, dass ich total anfing, zu schwitzen und zu zucken. Ich hielt mir die Hand vor den Mund und seine Frau fragte, ob ich lieber in die Klinik möchte.
Ich war erleichtert, aber ich konnte keine Antwort darauf geben. Stattdessen fing ich an, die Sachen aufzuzählen, die ich sah. Ich hatte das Medikament Quetiapin bei ihm liegen, das ich abends zum Einschlafen von meinem Freund eingeteilt bekam. Er reichte mir anstatt 25 mg gleich 100 mg, in der Hoffnung, dass ich mich beruhigen würde.
Tatsächlich. Es wirkte und ich entspannte mich ein wenig. Dennoch hatte ich Angst davor, allein zu sein. Sie diskutierten und beschlossen dann, dass der 18-jährige Bruder seiner Frau sich eine Matratze holen und sich für die Nacht zu mir ins Apartment legen sollte.
Wir begaben uns rüber in das Apartment und ich legte mich hin. Ich hatte solch eine Angst, dass es wieder losging mit den komischen Gedanken, dass ich mir immer wieder laut selbst sagte, dass alles gut wird. Der Junge versuchte, mich zu beruhigen und sagte mir, dass mein Kopf mir was Falsches vorspiele und alles gut wäre. Kurze Zeit darauf kam mir in den Sinn, dass ich mir die Zunge abbeißen müsse. Ich sprang auf und versuchte mir die Hand in den Mund zu stecken, damit ich mir nicht auf die Zunge beißen konnte. Dann ka- men wieder diese gegensätzlichen Gedanken.
Einerseits wollte ich mir die Hand in den Mund stecken und andererseits wollte ich die Hand aus meinem Mund rausziehen. Dass ich trotzdem irgendwo klar im Kopf war und merkte, dass ich ständig die Hand in meinen Mund steckte und wieder rauszog, ließ mich so ängstlich werden, dass ich dachte, ich falle ins Koma. Ich schrie wie ein Bekloppter um Hilfe. Mit der anderen Hand versuchte ich, nach der Hand des Jungen zu greifen und seine Hand in meinen Mund zu stecken. Zum Glück hatte der Lärm meinen Freund geweckt und er kam rüber. Ich schrie ihn an, dass er mich auf dem Boden fixieren solle. Er warf mich zu Boden und setzte sich auf mich. Ich befreite eine Hand und fing wieder an, mir diese in den Mund zu stecken. Mein Freund rief laut den Namen seiner Frau. Sie kam rüber und rief sofort den Notarzt an.
Bis der Notarzt, da war, kämpfte ich damit, mich zu befreien, um mir weiterhin die Hand in den Mund zu stecken, weil ich immer noch den Drang hatte, mir die Zunge abzubeißen. Der Notarzt stürmte herein und drückte mir auf meinen Willen hin ein Kissen zwischen die Zähne. Ich bekam sofort ein milchiges Medikament in die Nase gedrückt. Außerdem legten sie mir einen venösen Zugang, um mir irgendein Medikament per Infusion zukommen zu lassen.
Kurz darauf konnte mich mein Bekannter loslassen und ich wurde langsam bewegungsunfähig. Die ganzen Gedanken waren zum Teil immer noch da, aber ich war machtlos zu handeln. Ich zitterte am ganzen Körper.
Die Sanitäter mussten mich mit ganzer Kraft auf die Trage schieben, weil ich mich kein Stück bewegen konnte. Ich wurde in Richtung Krankenwagen gefahren und sah, dass die Polizei draußen mit meinem Freund sprach. Ich dachte, dass ich jetzt für lange Zeit Zwangs-eingewiesen würde. Mein nächster Stopp war aber erst einmal die Intensivstation. Dort angekommen wurden irgendwelche Kabel mit meinem Körper verbunden und es wurde mir gesagt, dass ich mich jetzt ausruhen solle. Ich schlief relativ schnell ein und konnte auch endlich wieder gut schlafen.
Am nächsten Morgen kam ein Arzt, der mir sagte, dass ich durch meinen kalten Entzug ein Delirium hatte. Die Information, dass ich kalt entzogen hatte, hatten sie von meinem Freund. Außerdem sagte er, dass er mit der psychiatrischen Einrichtung Rücksprache gehalten habe und die Ärzte dort mir zwar raten würden, einen qualifizierten Entzug zu machen. Eine Zwangseinweisung sei aber nicht nötig. Als ich das hörte,
dachte ich, dass sie alle die Ausmaße dessen, was bei mir ablief, nicht verstanden. Ich durfte gehen und ließ mich von meinem Bekannten abholen, der zum Glück Schuhe dabei hatte, weil ich nur mit Schlafsachen im Krankenhaus eingeliefert worden war.
Ich wollte nach dem Vorfall nicht weiter im Appartement leben und packte meine Sachen, um zurück nach Cloppenburg zu fahren. Mir war die ganze Sache total unangenehm. Ich entschuldigte mich und bedankte mich mehrmals bei meinem Bekannten für seine Hilfe.
Auf dem Rückweg nach Cloppenburg kaufte ich mir zwei Bier, um den ganzen Schock zu verarbeiten. Ich redete mir ein, dass ein Delirium durch einen kalten Entzug kommt und ich langsam den Alkohol rausschleichen musste, damit mir nicht nochmal solch ein Psychoterror passiert.